Startseite LänderDeutschland Wie soll sich die Logistikbranche für zukünftige Störfälle wappnen?

Wie soll sich die Logistikbranche für zukünftige Störfälle wappnen?

von Redaktion Loginfo24

Nach der Pandemie ist vor dem nächsten Störfall: Forschung für den System-relevanten Sektor Güterverkehr und Logistik jetzt initiieren. Die Professoren Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis, Universität Bremen (DE) und Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Universität St. Gallen (CH) hinterfragen Szenarien zu aktuellen und künftigen Störfällen, die es zu untersuchen gilt.

Von Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis, Universität Bremen (DE)
und Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Universität St. Gallen (CH)

(Bremen/St. Gallen) Aus den bisherigen Erfahrungen mit den Wirkungen der politischen Maßnahmen in Verbindung mit der COVID-19-Pandemie auf Güterverkehr und Logistik kann bereits jetzt geschlossen werden: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben. Denn die jüngsten Einschnitte stellen wohl für die Branche im DACH-Raum nach dem zweiten Weltkrieg den bislang schärfsten Einschnitt dar. Handlungsbedarf ergibt sich unabhängig davon schon aus dem breit bekundeten Anspruch einer so genannten Systemrelevanz.

Die betriebswirtschaftliche Forschung hat sich immer wieder, aber eher am Rande, mit „Disruption Management“ befasst. In größeren Unternehmen ist dennoch die Erstellung von „Business Continuity Plans“ zur regelmäßigen Gepflogenheit geworden – dies in Anbetracht der Erfahrungen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008-2009, dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull (2010) insbesondere für den Luftverkehr, der Nuklear-Katastrophe von Fukushima (2011) oder dem so genannten Franken-Schock (2015), letzteres speziell für Schweizer Unternehmen.

Wirtschaftliche Situation aktuell bedrohlich

Aktuell stellt sich für alle Akteure – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – die wirtschaftliche Situation als bedrohlich dar: Beispielsweise fehlt der Luftfracht die Belly-Kapazität (97 % der Passagierflüge sind bei der Lufthansa-Gruppe über Wochen ausgefallen), die Auslastung der deutschen Stückgutnetze ist zwischen 20 und 40 % eingebrochen, auf der Schiene ist aufgrund zeitweiser Produktionseinschränkungen und -stopps in der Massengut-affinen Industrie ebenfalls bedeutendes Sendungsvolumen weggefallen und auch die containerisierte Seeschifffahrt sowie die Binnenschifffahrt mussten angesichts des massiven Rückgangs des internationalen Handels erhebliche Einbrüche verzeichnen.

Nun könnte die Frage kommen: Warum jetzt schon ein Resümee ziehen, wenn sich just in diesen Tagen die medialen Schlagzeilen stärker denn je mit „zweiter Welle“ befassen und die Aufarbeitung der Folgen der Krise in Vergessenheit zu rutschen droht? Hierzu kann man sich von der medizinischen Forschung inspirieren lassen: Dort laufen längst ad-hoc-Projekte zu COVID-19 in einzelnen Kommunen bzw. Regionen, um daraus schnelle Rückschlüsse für zeitnahe, geeignete medizinische Maßnahmen zu ziehen. Es gilt demnach für die anwendungsnahe Logistik-Forschung: nicht abwarten und zuschauen, sondern Forschungsaktivitäten zeitnah entfalten, die sich auf drei Zeitschienen setzen lassen:

  • Kurzfristig: Welche Maßnahmen können die Akteure des Sektors heute und in den nächsten Monaten ergreifen, um den wirtschaftlichen Folgen der Krise besser begegnen zu können?
  • Mittelfristig: Wie kann man sich mit einem geeigneten Krisenmanagement auf ein erneutes Verschärfen der politischen Maßnahmen rund um eine etwaige pandemische Situation – wie auch immer diese definiert sein mag – besser einstellen?
  • Langfristig: Wie begegnen die öffentlich-rechtlichen ebenso wie die privaten Akteure künftig ähnlich massiven Störfällen jedweder Natur – auch im Hinblick auf das Redesign von Güterverkehrs- und Logistiksystemen

 

Betroffen sind alle Verkehrsträger

Grundsätzlich geht es bei den Fragen auf den drei Zeitschienen darum, die Resilienz im Bereich Güterverkehr und Logistik zu erhöhen. Dies betrifft alle Verkehrsträger, d.h. neben dem Straßen- und Schienengüterverkehr auch den Luftfrachtverkehr, die Binnenschifffahrt und die Kurzstreckenseeverkehre sowie die damit verbundenen Umschlags- und Lagereinrichtungen. Institutionell werden Logistikdienstleister, Transportunternehmen für alle Verkehrsträger, Anbieter von ergänzenden Dienstleistungen (z.B. Handling, Verzollung), Logistikeinrichtungen (z.B. Lagerhäuser, Transshipment-Points) von Industrie- und Handelsunternehmen, digitale Plattformen (Frachtenbörsen und digitale Speditionen) sowie die Betreiber von Infrastruktureinrichtungen (z.B. Flughäfen, Binnenhäfen, Seehäfen, Bahnhöfe, Terminals, Güterverkehrszentren) adressiert.

Die Resilienz-Forschung in Güterverkehr und Logistik umfasst also prinzipiell einen breiten Scope. Um eine Fokussierung zu ermöglichen, bedarf es zunächst einer Befassung mit der Frage, welche Güter entsprechend dem Störfall in einem Spektrum von „besonders kritisch“ bis hin zu „gar nicht kritisch“ einzuordnen sind. Denn bei weitreichenden Störfällen kann es nicht darum gehen, die Funktionsfähigkeit für die Versorgung des Gewerbes und der Konsumenten mit allen Güterkategorien gleichermaßen vollständig aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist ein abgestuftes Vorgehen gefragt, das es erlaubt, die Kräfte für die Versorgung mit besonders kritischen Gütern sicher zu stellen. Im Ergebnis wären Güterverkehrs- und Logistiksysteme nicht per se als System-relevant zu qualifizieren und Maßnahmen zur Bekämpfung der Störanfälligkeit ließen sich gezielter als bislang ansetzen.

Eine weitere Grundsatzfrage bezieht sich auf die Verknüpfung der originären wissenschaftlichen Erkenntnisse zur jeweiligen Art der Krise mit der Leistungsfähigkeit von Güterverkehrs- und Logistiksystemen. Konkret würde das am jüngsten Beispiel der so genannten COVID-19-Pandemie bedeuten: Aktuelle medizinische Erkenntnisse zur Art der Infektion, den tatsächlichen Infektionsraten, der Zahl der Erkrankten (differenziert nach der Schwere der Erkrankung) und der durch den (nicht: „mit“ dem) Virus Verstorbenen zu verknüpfen mit gezielten Störfallmaßnahmen in Güterverkehr und Logistik. In der Folge würden die Maßnahmen rund um den Lockdown bis hin zu den erfolgten Grenzschließungen mit harten Konsequenzen auch für den Güterverkehr ebenso eine andere Bewertung erfahren wie der Aktionismus rund um die Beschaffung und das Tragen von Masken. Dann wäre auch frühzeitig zu erkennen gewesen, inwieweit es einer weitgehenden Schließung des Einzelhandels bedurft hätte, mit der Konsequenz eines politisch veranlassten, völlig veränderten Konsumverhaltens, welches die Güterverkehrs- und Logistiksysteme vor ganz eigene, teilweise unnötige Herausforderungen gestellt hat.

Störfälle nicht nur durch Pandemien

Bei aller intensiven Auseinandersetzung mit den Folgen und Maßnahmen der so genannten COVID-19-Pandemie: Schwerwiegende Störfälle für Güterverkehr und Logistik können auch ganz andere Ursachen haben, so dass Expertise aus verschiedenen Bereichen mit der Resilienz-Forschung in Güterverkehrs- und Logistiksystemen zu verknüpfen ist. Zu denken wäre beispielsweise an nicht kontrollierbare Nuklearunfälle im DACH-Raum sowie in den angrenzenden Gebieten, an langanhaltende Dürreperioden, an Terroranschläge mit weitreichenden Folgen oder auch an schwerwiegende Gefährdungen aus den Bereichen Chemie, Biochemie und Pharma.

Im Ergebnis sollten sich zusätzliche öffentliche Mittel im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Krise nicht auf eine Kaufprämie für Pkws oder die temporäre MwSt.-Absenkung beschränken, sondern eher vorausschauend für die Erforschung von mehr Effizienz und Effektivität bei der Resilienz in Güterverkehr und Logistik bereitstehen. Dazu bedarf es eines integrativ ausgelegten Forschungsrahmens ebenso wie einer erneuten Würdigung anwendungsorientierter Logistik-Forschung.

Bild links:       Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis, Universität Bremen (DE)

Bild rechts:    Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Universität St. Gallen (CH)

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