Daten via Stromkabel versenden: HSLU-Forschende haben diese Methode für die Kupplung von Güterzügen nutzbar gemacht. Damit soll der Gütertransport per Bahn schneller und sicherer werden. Im Moment läuft dazu ein Pilotversuch, der europaweit Beachtung findet.
(Luzern/Wildegg) Montagmorgen im Kanton Aargau. Die Gäste im Bahnhofbuffet von Wildegg ahnen nicht, dass vor dem Fenster soeben ein futuristischer Zug vorbeifährt. Denn auf den ersten Blick ist es ein unauffälliger Güterzug. Man sieht ihm nicht an, dass er bei Fachleuten europaweit Interesse weckt. Auf dem ersten Wagen prangt gross das Logo «DAC+». Die Zugskomposition rollt langsam auf ein Abstellgleis, direkt neben das imposante Industrieareal des Baustoffherstellers Jura Cement. Hier will ein internationales Forschungsteam mit dem Zug einige Testmanöver durchführen, denn die sechs Wagen sind mit einem neuen Kupplungssystem ausgerüstet, das dereinst den Güterzugverkehr revolutionieren könnte.
Digitale Kupplung statt uralte Technik
Technisch hat sich der Schienengüterverkehr in den letzten hundert Jahren kaum weiterentwickelt. Bis heute erfolgen die Arbeitsprozesse weitgehend manuell. Das Kuppeln der Güterwagen ist eine schwere körperliche Arbeit, die bei Wind und Wetter draussen stattfindet. Und damit nicht genug: Vor jeder Abfahrt eines Güterzugs müssen ein oder zwei Mitarbeitende jede einzelne Bremse von Hand überprüfen, da es kein digitales Informationssystem gibt. Je nach Länge des Zugs bringt das einen langen Fussmarsch mit sich. Aus unternehmerischer Sicht kostet dies Zeit und Geld.
Aber nicht nur bei der Fahrtvorbereitung macht sich dieses fehlende Informationssystem nachteilig bemerkbar. Auch während der Fahrt würde es nützliche Funktionen ermöglichen. So lässt sich heute beispielsweise vom Führerstand aus nicht prüfen, ob der Zug noch komplett ist. Deshalb müssen nachfolgende Züge einen grossen Sicherheitsabstand halten, was Auswirkungen auf den gesamten Zugverkehr hat. Europaweit sind deshalb Bestrebungen im Gang, den Schienengüterverkehr zu modernisieren. SBB-Cargo gehört dabei mit dem «DAC+» zu den Vorreitern. Das Pilotprojekt läuft seit Februar 2023. Das Kürzel steht für Digitale Automatische Kupplung. Diese soll ohne Handarbeit von Rangierpersonal eine mechanische Verbindung zwischen den Wagen herstellen. Gleichzeitig soll die DAC+ auch die Luftleitung für das Druckluftbremssystem und eine Stromleitung aneinanderkoppeln; auch dies geschieht automatisch.
Nationales Projekt mit europaweitem Einfluss
Vereinfacht ausgedrückt besteht die Kupplung der Zukunft aus zwei Grundkomponenten: Die Basis bildet der massive Kupplungskopf, mit dem die Wagen verbunden und gezogen werden. Darüber wird zusätzlich eine elektronische Kupplung installiert. Diese kann verschiedene Informationen über den Zustand der Wagen und der Bremsen in die Führerkabine des Zugs übermitteln, zukünftig können weitere Applikationen dazukommen. Das neue Kupplungssystem soll zudem so ausgestaltet sein, dass die Züge grenzüberschreitend kursieren und Wagen verschiedener Nationen aneinandergekoppelt werden können.
Ein erster Vorentscheid ist auf europäischer Ebene bereits gefallen: Im Januar 2021 hat das «European DAC Delivery Programme» (EDDP) den Typ des künftigen Kupplungskopfs gewählt: das sogenannte Scharfenberg-System.
Zu dieser politischen Weichenstellung hat SBB Cargo wesentlich beigetragen: Das Unternehmen hat den Scharfenberg-Kupplungskopf in einer langen Pilotphase gemeinsam mit dem Maschinenbauunternehmen Voith entwickelt, getestet und 2019 als erste Bahnbetreiberin Europas bereits in Betrieb genommen.
In den nächsten Monaten geht es nun darum, auf europäischer Ebene die Technologie für die Datenübertragung zu definieren. Expertinnen und Experten am Institut für Elektrotechnik der Hochschule Luzern haben eine Methode nutzbar gemacht, mit der es für die Kommunikationsdaten kein eigenes Kabel braucht, da sie via Stromkabel versendet werden. «Das bedeutet: weniger Kabel, weniger Kontaktstellen und damit auch weniger Angriffsfläche für Ausfälle oder Störungen», sagt Gerd Dietrich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSLU. In Flugzeugen wird die Technik bereits erprobt, jetzt soll sie den Schienengüterverkehr revolutionieren.
Klappt die Datenübertragung in der Kurve?
Zurück nach Wildegg im Aargau: Die Wagen des Pilotzugs DAC+ sind bereits mit den neuen DAC-Kupplungsköpfen ausgerüstet. Darüber sind die Prototypen der elektrischen Kupplung installiert. Die elektronischen Komponenten dieser Kupplung sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Sie befinden sich gut geschützt unter einer schwarzen Plastikmembrane. Gerd Dietrich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSLU, klappt diese mit der Hand kurz hoch und erklärt: «Die Datenübertragung via Stromkabel hat den zusätzlichen Vorteil, dass sie sehr robust ist und auch bei kurzen Kontaktunterbrechungen fehlerfrei funktioniert.» In einem Güterzug, der während der Fahrt immer etwas vibriert und sich dem Verlauf von Kurven anpassen muss, ist dies ein grosser Vorteil.
Derzeit sind europaweit noch zwei Techniken im Rennen, die zur Datenübertragung in Güterzügen dienen könnten. Welche dereinst das Rennen machen wird, ist im Moment noch offen. Aktuell hat die Power-Line-Communikation-Technik der HSLU die Nase vorn, denn mit dem anderen System – es heisst Single-Pair Ethernet – gibt es bisher nur wenige provisorische Feldversuche. Die Datenübertragung via Stromkabel wird nun auf dem Pilotzug DAC+ ein ganzes Jahr lang auf Herz und Nieren geprüft. In Wildegg stehen heute unter anderem Fahrten in engen Kurven, automatisches Kuppeln und automatische Bremskontrollen auf dem Programm. Der Weg vom Prototyp bis zur Markteinführung ist aber noch lange und birgt enorme Herausforderungen. Ein leerer Güterwagen wiegt 20 Tonnen, beim Kupplungsvorgang wird dieses Gewicht auf bis zu 12 Stundenkilometer beschleunig. Das führt zu hohen Belastungskräften, unter denen die Kontakte zuverlässig funktionieren müssen.
Prozessoptimierung und Zeitersparnis
Dennoch: Die Hoffnung, die in die Digitalisierung des Schienengüterverkehrs gesetzt wird, ist gross. Im Moment stehen die Bahnbetreiber aufgrund von akutem Personalmangel unter Druck. Automatisierte Zugfunktionen könnten die Arbeitsprozesse erheblich vereinfachen und zu Zeiteinsparungen beitragen – von ferngesteuertem Entkuppeln, besserer Überwachung während der Fahrt bis hin zu einer gezielteren Wartung, da man aufgrund der Datenqualität die Abnutzung eruieren kann.
Es rumpelt und knallt. Lokführer Alexander Gyger hat den Triebwagen des Pilotzugs mithilfe einer Fernsteuerung in Bewegung gesetzt und langsam auf zwei losgekoppelte Güterwagen auffahren lassen. Ein kurzes Zischen, Gerd Dietrich wirft einen Blick auf die Kupplung. Perfekt. Das pneumatische Bremssystem hat sich automatisch verbunden, auch die elektronische Datenübertragung funktioniert. Bei jedem der insgesamt sechs Wagen wird das Manöver wiederholt. Dann wird es Zeit aufzubrechen, denn der Zug muss noch die Testfahrten auf längeren Kurven absolvieren. Der Fahrplan in der Schweiz ist dicht, die Gleise sind nur für ein kurzes Zeitfenster verfügbar.
Derweil trinken die Gäste im Bahnhofbuffet genüsslich ihren Kaffee, dessen Bohnen zukünftig vielleicht von Güterzügen mit PLC-Kupplung geliefert werden.
Das internationale Konsortium, das diesen Pilotzug entwickelt hat, besteht aus SBB Cargo und dem Kompetenzzentrum Intelligent Sensors and Networks der Hochschule Luzern, den Unternehmen Voith, PJM und plc-tec, einem Spin-Off der HSLU. Unterstützt wird das ehrgeizige Vorhaben durch das Bundesamt für Verkehr (BAV).
Fotos: © HSLU