Startseite LänderEuropa Grenzschließungen eine bleibende Bedrohung für Mensch und Logistik?

Grenzschließungen eine bleibende Bedrohung für Mensch und Logistik?

von Redaktion Loginfo24

Das Coronavirus brachte in Europa etwas zurück, was seit dem zweiten Weltkrieg durch jahrelange Bemühungen Schritt für Schritt abgeschafft wurde - Grenzschließungen. Dabei kennt die junge Generation nicht einmal mehr bewachte Grenzübergänge. Die EU, die Schengen-Vereinbarungen und der Fall des "Eisernen Vorhangs" machten ganz Europa zu einem grenzenlosen Raum. Während der Personenverkehr fast ganz zum Erliegen kam, wurden durch die neuen Grenzverordnungen grosse Probleme für Logistik und die Supply Chain geschaffen. Die Professoren Andreas Knorr und Wolfgang Stölzle beleuchten die gesamte Problematik in diesem Bericht.

 

Von:

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Universität St. Gallen

Die schrittweise Rückkehr der Grenzen und das „Ischgl“-Syndrom der Politik

In diesen Tagen jährt sich der Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland und weiten Teilen der EU. Das wirft die Grundsatzfrage auf, ob sich die massiven Einschränkungen der Grundrechte von allein in Deutschland 83 Millionen Menschen überhaupt mit dem tatsächlichen Infektionsgeschehen und den gesundheitlichen Gefahren rund um COVID-19 rechtfertigen lassen. Besonderes Anschauungsmaterial hierzu bietet die erneute Schließung (nicht nur) der deutschen Außengrenzen. Diese wurden bekanntlich bereits im ersten Lockdown ab dem 16.03.2020 bis Mai 2020 für alle Einreisen von Ausländern ohne „triftigen Grund“ geschlossen. Als besonders drastisches Beispiel sei hier nur auf den, zunächst von deutscher Seite errichteten, doppelten Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen in der Schweiz verwiesen. Er wurde aufgestellt, um Fußgänger am Überschreiten der Grenze zu hindern. Zahlreiche andere EU-Mitgliedstaaten folgten dem deutschen Beispiel nur wenig später, bevor mit dem offiziell verkündeten Rückgang der Inzidenzzahlen in der warmen Jahreszeit die Grenzen wieder schrittweise geöffnet wurden. Allerdings schloss Ungarn als erstes EU-Mitglied bereits am 01.09.2020 zum Schutz vor einer „zweiten Welle“ erneut – und bis heute – seine Grenzen.

Als Reaktion auf den starken Anstieg der offiziell positiv Getesteten in den Wintermonaten wiederholt sich nun die Geschichte. Den Anfang machte Belgien, das seinen Bürgern seit Ende Januar 2021 sogar alle „nicht wesentlichen“ Auslandsreisen rechtlich untersagt. Doch auch die Eskalationsstrategie deutscher Politiker an den Außengrenzen kennt inzwischen offenbar keine Limits mehr. Faktische Grenzschließungen ergaben sich ohnehin schon seit längerem bereits aus der Verpflichtung, Grenzübertritte vorher online anzumelden, permanent, sogar teilweise täglich, aktuelle negative Testergebnisse nachzuweisen und sich nach Rückkehr aus einem vom RKI als Risikogebiet klassifizierten Land in der Regel in Quarantäne begeben zu müssen. Aber auch innerdeutsche Reisen zu touristischen Zwecken unterbanden die seit Monaten wiederholt erlassenen Beherbergungsverbote der Bundesländer größtenteils. Einige Länder untersagten sogar den in einem anderen Bundesland lebenden Eigentümern die Nutzung der eigenen Ferienwohnung.

Für Logistikdienstleister kaum mehr zu überblicken

Für den Normalbürger, aber auch für europaweit tätige Logistikdienstleister, ist der noch dazu häufig „mutierende“, regulatorische Flickenteppich als Ausfluss föderaler Kleinteiligkeit und mangelhafter internationaler Koordination kaum mehr zu überblicken – was das latente Risiko sanktionsbewehrter Rechtsverstöße mit sich bringt. Im Ergebnis kamen folglich seit November 2020 nicht nur die Urlaubs- und Ausflugsverkehre nahezu komplett zum Erliegen – mit den bekannt katastrophalen wirtschaftlichen Folgen für die Tourismuswirtschaft, die Hotellerie, die Gastronomie, Flughafenbetreiber sowie die Beförderungsdienstleister. Überdies werden auch berufs- und familienbedingte Pendelverkehre in erheblichem Maße beeinträchtigt, ohne dass die Politik zunächst den politisch unpopulären Begriff „Grenzschließung“ verwenden musste. So änderte beispielsweise die Bayerische Staatsregierung trotz vorheriger, anderslautender Ankündigungen just am Heiligen Abend 2020 die Grenzübertrittspraxis von bzw. nach Vorarlberg und zerstörte damit den Wunsch vieler Menschen nach einem gemeinsamen Weihnachtsfest in der Familie oder mit Freunden.

Schließlich sperrte die Bundesregierung am 14.02.2021 dann aber doch – und offenbar erneut ohne eine vorherige Konsultation mit den Regierungen der betroffenen Länder für geboten zu erachten – auf dem Verordnungsweg zunächst die Grenzen zu Tschechien und dem österreichischen Bundesland Tirol. Inzwischen hat die Regierung Österreichs die Abriegelung des Bundeslandes Tirol auch im Landesinneren unter Berufung auf die so genannte südafrikanische Variante des Corona-Virus (B.1.3.5.1) angeordnet. Selbst der in den Medien omnipräsente Virologe Christian Drosten bekundete noch am 05. Januar 2021 im NDR-Podcast, dass die Corona-Varianten aus Südafrika und England nicht zu größeren Problemen führen würden. Das Verlassen des Bundeslandes durch Passieren der ersten innerösterreichischen Grenzkontrolle seit dem Ende der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist seither bis auf Widerruf nur noch bei Vorlage eines negativen Tests gestattet.

Sonderbehandlung Frankreichs

Etwas vorsichtiger agierte die Bundesregierung zunächst gegenüber Frankreich, wohl wegen deutlicher Warnungen der französischen Regierung vor einer erneuten Grenzschließung wie im Frühjahr 2020. Die Sonderbehandlung Frankreichs im Rahmen der deutschen Anti-Corona-Politik ist ohnehin auffällig und zeigt, dass und wie sehr die Bundesregierung gegenüber den Nachbarstaaten mit zweierlei Maß misst. So wird das Land vom RKI nach wie vor lediglich als einfaches Risikogebiet und nicht als Hochinzidenzgebiet eingestuft – und das trotz der derzeitigen (Stand: 11.03.2021) offiziell angegebenen 7-Tage-Inzidenz von 220,1 mit Ausreißern in einzelnen Regionen Kontinental-Frankreichs von bis zu 441,5 (Pas-de-Calais). Schließlich wurden aber am 02.03.2021 auch die Grenzen des französischen Départements Moselle zum Saarland und zu Rheinland-Pfalz rechtlich für weite Teile des grenzüberschreitenden Verkehrs geschlossen, was auch die davon formal ausgenommenen Wirtschafts- und Lieferverkehre operativ und wirtschaftlich gleichwohl substanziell belastet.

Die neuen und seit ihrer Einführung mehrmals verlängerten Grenzschließungsmaßnahmen Deutschlands gelten noch mindestens bis zum 17.03.2021, vermutlich aber deutlich länger, hat doch laut einer jüngsten Äußerung des RKI-Präsidenten Wieler infolge der raschen Verbreitung so genannter ausländischer Virusvarianten die „dritte Welle“ hierzulande bereits begonnen. Man kann also fast sicher davon ausgehen, dass die Grenzschließungen bei künftigen Verlängerungen des Lockdowns ebenfalls aufrechterhalten werden. Auch eine Ausweitung auf weitere Außengrenzen ist in der aktuellen politischen Gemengelage keinesfalls ausgeschlossen. Schließlich beschränken die Behörden mehrerer EU-Staaten, darunter wiederum Deutschland, auch den Passagierluftverkehr inzwischen massiv und berufen sich dabei auf die Gefahr des Einschleppens so genannter neuartiger Virusvarianten aus Lateinamerika, Südafrika und – bis vor kurzem – Großbritannien.

LKW-Fahrer müssten eigentlich nicht in Quarantäne

Die älteren Leser werden sich erinnern: Keine drei Monate vor dem Fall der Mauer zeigte sich der im Saarland gebürtige, damalige Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker noch fest davon überzeugt, dass der Sozialismus in seinem Lauf weder von Ochs‘ noch Esel aufzuhalten sei. Heute lässt sich die Bundesregierung auch durch die von ihr selbst mit beschlossenen Empfehlungen des Rates der EU für eine „koordinierte Vorgehensweise bei der Beschränkung der Freizügigkeit aufgrund der COVID-19-Pandemie“ (Amtsblatt der EU, L 36/1 vom 02.02.2021) in ihrem Lauf nicht bremsen. Ihnen zu folge sollen Beschäftigte im Verkehrs- und Logistiksektor nicht nur grundsätzlich von der der COVID-19-Testpflicht ausgenommen bleiben. Besteht ein Mitgliedsstaat gleichwohl auf einer Testpflicht, soll diese lediglich als Antigen-Schnelltest erfolgen. Bei Unterbrechungen grenzüberschreitender Transport- und Lieferketten sollte das störungsfreie Funktionieren der designierten „Green Lanes“ für Lkw an den EU-Binnengrenzen allerdings durch eine Aussetzung besagter Testpflicht sichergestellt werden. Schließlich sollten sich Lkw-Fahrer nach Überschreiten der Grenzen nicht in Quarantäne begeben müssen. Soweit die Theorie. Die Realität sieht, nicht nur an den deutschen Grenzen, freilich ganz anders aus (dazu später mehr).

Vor diesem Hintergrund wäre für die Bundesregierung und die Regierenden der Bundesländer eigentlich angezeigt, endlich damit zu beginnen, die Wirksamkeit und die Verhältnismäßigkeit ihrer bisherigen Anti-Corona-Politik systematisch und ergebnisoffen aufzuarbeiten. Das derzeitige (?) „New normal“ an wichtigen deutschen Außengrenzen kann für diese längst überfällige Generalrevision in Anbetracht der nun schon seit einem Jahr andauernden Beschneidung fundamentaler Grundrechte sowie des Rechts aller „Unionsbürger“ auf EU-weite Freizügigkeit wertvolle Denkanstöße liefern.

Risikogebiete! Risikogebiete?

Ganz abgesehen von ihrer fatalen Symbolwirkung – immerhin wird seit Jahrzehnten in politischen Sonntagsreden das „vereinte Europa ohne Grenzen“ als Fundament und vorgeblicher Raison d‘être des politischen Konstrukts EG/EU unermüdlich beschworen – war auch der epidemiologische Nutzen der Grenzschließungen von Anfang an höchst umstritten. Offiziell begründet wird die Notwendigkeit massiver Beschränkungen grenzüberschreitender Verkehre nach wie vor fast gebetsmühlenartig mit der pandemiebedingten Ausnahmesituation. Wahlweise werden dann die im Vergleich zu Deutschland weit höheren ausländischen Inzidenzwerte, unzureichende Maßnahmen bei der Pandemiebekämpfung in den Nachbarstaaten und neuerdings vor allem das momentan besonders populäre Narrativ der angeblich dringend notwendigen Eindämmung deutlich „ansteckenderer“ und „gefährlicherer“ Virusvarianten angeführt.

Logisch nachvollziehbar waren und sind diese nur bei oberflächlicher Betrachtung sachlich vorgetragenen Rechtfertigungsgründe freilich nicht. Dafür spricht nicht nur das Fehlen komplementärer Beschränkungen für die innerdeutschen Wirtschaftsverkehre trotz der offiziell bekundeten, anhaltend hohen Varianz der offiziellen 7-Tage-Inzidenzwerte im Bundesgebiet. Hinzu kommt deren teilweise enorme Volatilität binnen kurzer Zeit an ein und demselben Ort. Als Beispiel mag die kreisfreie Stadt Speyer dienen, der Wohnsitz eines der Autoren (17.12.2020: 522,1; 30.12.2020: 191,8; 12.03.2021: 15,8).[1]

Noch fragwürdiger ist die Einstufung eines Landes oder einer ausländischen Region als Risiko- oder Hochinzidenzgebiet samt aller daraus folgenden Restriktionen selbst dann, wenn die dortige 7-Tage-Inzidenz – mitunter deutlich – unter dem deutschen Wert liegt. Dessen ungeachtet beharrt die Bundesregierung im Wesentlichen auf den entsprechenden rigiden RKI-Grenzwerten von 50 und 200. Lediglich das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht beanstandete diese Praxis nach der Klage eines deutschen Reiserückkehrers als unverhältnismäßig und hob die damit verbundene Quarantänepflicht in NRW folgerichtig als unzulässig auf. Die Landesregierung reagierte auf diesen Beschluss jedoch nicht etwa mit der ersatzlosen Abschaffung der Quarantänepflicht für Rückkehrer aus Ländern mit einer Inzidenz unterhalb der RKI-Grenzwerte. Vorgeschrieben wurde stattdessen eine generelle Testpflicht binnen 48 Stunden vor oder nach der Einreise, um bei einem negativen Test die Quarantänepflicht legal umgehen zu können.

Eindämmung durch Grenzregime ist gescheitert

Auch der epidemiologisch naive Versuch der Bundesregierung, durch ihr neues Grenzregime die flächendeckende Verbreitung der neuartigen Virusvarianten im Inland zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen, ist innerhalb kürzester Zeit ebenso spektakulär wie erwartbar gescheitert. So hat die laut RKI „hochansteckende“ britische Virusmutation B.1.1.7 – die nach aktuellen Pressemeldungen zu den Ergebnissen einer ersten virologischen Studie um bis zu „64 Prozent tödlicher“ sein soll – Deutschland längst erreicht. Stand heute lässt sie sich bereits in der Hälfte aller positiven Tests nachweisen.

Dass eine intelligentere Lösung zur Ausweisung von Risikogebieten durchaus möglich ist, beweist die Schweiz. Sie verfolgt einen flexiblen Ansatz mit klarem Fokus auf die Dynamik der epidemiologischen Lage anderer Länder und ausländischer Regionen: Als Risikogebiete mit „erhöhtem Ansteckungsrisiko“ gelten dort nur diejenigen Staaten oder Regionen, deren 14-Tage-Inzidenz den Schweizer Wert um mindestens 60 übertrifft oder in denen sich eine „ansteckendere oder gefährlichere“ Virusvariante besonders stark ausgebreitet hat. Es kann daher nicht überraschen, dass die alle zwei Wochen aktualisierte Schweizer Liste offizieller ausländischer Risikogebiete deutlich kürzer ausfällt als ihr deutsches Pendent. Auch wenn in der Schweiz für Einreisende aus Risikogebieten vergleichbare Regularien wie in Deutschland gelten, ist doch festzuhalten, dass sich bereits durch Umstellung des RKI-Verfahrens zur Definition von Risikogebieten auf das Schweizer Modell weit weniger Einschränkungen grenzüberschreitender Verkehre politisch rechtfertigen ließen.

Die Frage nach der Effektivität der Grenzschließungen als Instrument der Pandemiebekämpfung muss daher mit „nein“ beantwortet werden. Darauf deuten nicht nur die ähnlichen Trendverläufe der EU-Mitgliedstaaten bei den Inzidenzen trotz unterschiedlicher Grenzregime hin. Eine aktuell veröffentliche epidemiologische Studie stützt diese Einschätzung. Den Modellrechnungen ihrer Autoren zufolge war das Ansteckungsrisiko innerhalb der zuerst vom Corona-Virus betroffenen großen EU-Mitgliedstaaten Italien, Frankreich und Deutschland bereits zehn Tage vor den erstmaligen Grenzschließungen am 17.03.2020 mindestens ebenso hoch wie die Ansteckungswahrscheinlichkeit durch Kontakt mit infizierten Einreisenden.[2]

Wie stellt sich die Bedrohungslage generell dar?

Angesichts der totalen Ineffektivität faktischer ebenso wie formeller Grenzschließungen stellt sich die Grundsatzfrage nach der tatsächlichen gesundheitlichen Bedrohungslage durch das Corona-Virus für große Teile der Bevölkerung. Diese wurde gerade auch in diesem Forum in zahlreichen Beiträgen fachlich hochqualifizierter Autoren regelmäßig und umfassend diskutiert und soll an dieser Stelle daher nur knapp referiert werden. Seit langem bekannt ist zunächst die eingeschränkte Aussagekraft der üblichen Testverfahren, nicht nur aufgrund der generellen und nicht lösbaren Problematik falsch positiver und falsch negativer Ergebnisse. Zum Allgemeinwissen gehört inzwischen auch, dass ein positives Testergebnis nur das Vorhandensein einer bestimmten Viruslast im Körper des Getesteten bestätigt, daraus jedoch nicht zwangsläufig auf das Vorliegen einer Infektion bzw. einer Ansteckungsgefahr für Dritte geschlossen werden kann. Sie sind daher für sich genommen für eine zuverlässige Diagnose nicht geeignet, was vor wenigen Wochen sogar die WHO offiziell bestätigt hat. Diagnostisch verlässlicher wären Antikörpertests, vor allem aber Nachweisverfahren für spezifische T-Zellen. Beide Methoden sind hierzulande offensichtlich politisch nicht erwünscht.

Jeder medizinische Test stellt lediglich eine Momentaufnahme der Infektionsgeschehens dar. Sofern die Getesteten statistisch nicht die Gesamtheit der Bevölkerung repräsentieren, liegt zudem entweder eine kaum präzise abschätzbare Dunkelziffer oder aber eine ebenfalls nie exakt erfassbare Überzeichnung des realen Infektionsgeschehen vor. Außerdem ist mittlerweile sehr gut dokumentiert, dass eine Covid-19-Infektion bei den allermeisten Betroffenen weitgehend symptomfrei verläuft. Daher werden sich Menschen ohne einschlägige Beschwerden oft gar nicht bemüßigt fühlen, sich einem Test zu unterziehen. Aber auch Personen mit typischen Infektionsmerkmalen haben wegen der ihnen bei einem positiven Ergebnis drohenden Einschränkungen fundamentaler Freiheitsrechte, wie insbesondere der Verpflichtung zur „Absonderung“ bzw. Quarantäne, möglicherweise nur geringe Anreize, sich testen zu lassen.

Unterschiedliche Teststrategien der einzelnen Länder

Spinnt man diesen Faden weiter ist offensichtlich, dass regionale oder internationale Vergleiche von Inzidenzwerten, die auf positiven Testergebnissen beruhen, nur unter engen Voraussetzungen aussagekräftig sind: Gleichwertige medizinische Qualität der eingesetzten Testverfahren und Laboruntersuchungen, vergleichbare Qualifikation des Test- und Laborpersonals und statistische Repräsentativität der Getesteten. Dass dies ein frommer Wunsch bar jeder Realität ist, lässt schon ein oberflächlicher Blick auf die Zahl der aktuell pro Tag je 1.000 Einwohner durchgeführten Tests erkennen. Der deutsche Referenzwert liegt derzeit bei 1,94, wobei trotz inzwischen erfolgter Zulassung von Schnelltests überwiegend immer noch um PCR-Tests eingesetzt werden, die bislang keine Zulassung zur Diagnostik haben; zudem werden in Deutschland bei den positiv ausgefallenen Tests nach wie vor vergleichsweise wenige Sequenzierungen durchgeführt, um Virusmutationen nachweisen zu können. Interessant ist, dass gerade Länder mit sehr hohen Testraten wie die Slowakei (57,03), Österreich (26,07), Großbritannien (17,11), Luxemburg (14,27) oder Tschechien (11,01) allesamt von Grenzschließungen seitens der deutschen Regierung betroffen waren oder sind.[3]

Schon aufgrund der gravierenden Unterschiede bei der Teststrategie lassen sich die offiziellen Inzidenzwerte dieser Länder also weder untereinander noch mit dem deutschen Inzidenzwert vergleichen. Somit ist auch die Praxis des RKI und der Bundesregierung, ein Land oder eine ausländische Region pauschal als Risikogebiet (bzw. Hochinzidenz- oder Virusvariantengebiet) einzustufen, wenn die von den dortigen Behörden erhobenen Inzidenzwerte die einschlägigen RKI-Grenzwerte übersteigen, methodisch ausgesprochen fragwürdig. Die massiven Freiheitsbeschränkungen durch die geltenden Quarantänevorschriften für Einreisende aus sogenannten Risiko-, Hochinzidenz- und Virusmutationsgebieten und vor allem die erneuten Grenzschließungen, sind schon aus diesem Grund ebenfalls unverhältnismäßig. Nicht nachzuvollziehen ist daher, warum Bundesregierung und die Landesregierungen den offiziell errechneten Inzidenzwert gleichsam wie eine Monstranz vor sich hertragen und als wichtigsten Indikator für Verschärfungen oder Lockerungen ihrer freiheitsbeschränkenden Anti-Corona-Maßnahmen heranziehen.

Unter anhaltend starkem Interesse der Medien und der Bevölkerung gibt das RKI (fast) täglich die offizielle Zahl der Menschen bekannt, die während des Berichtszeitraums neu „an oder mit“ Corona verstarben. Dabei geben die Mainstreammedien meist nur die absolute Zahl der Toten an die Öffentlichkeit weiter. Sie wird – wohl wegen des fehlenden Kontexts und der weit verbreiteten Unkenntnis der Eintrittswahrscheinlichkeiten anderer, statistisch weit häufiger auftretender Todesursachen – von vielen Menschen als unerträglich hoch empfunden und daher von der Politik zur Rechtfertigung drakonischer und für viele Betroffene auch wirtschaftlich existenzbedrohender Grundrechtseinschränkungen genutzt.

Gewisse Willkür bei der Erfassung

Abgesehen von der grundsätzlichen Kritik, dass das undifferenzierte Kriterium „an oder mit“ einer gewissen Willkür bei der Erfassung der primären Todesursache Vorschub leistet und nach Kenntnis der Verfasser auch bei keinem anderen Krankheitsbild oder einer anderen Todesursache als statistisches Maß praktiziert wird: Nach allem was bekannt ist, sind eine Infektion, geschweige denn ein schwerer Verlauf oder gar der Tod für das Gros der Bevölkerung statistisch nicht sehr wahrscheinlich. Das zeigen bereits folgende Zahlen auf Basis aktueller Daten des US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC). Seit Beginn der Pandemie wurden von amerikanischen Laboren etwas mehr als 346 Millionen Tests durchgeführt. Die Rate der dabei positiv Getesteten beträgt zurzeit 8,78 Prozent. Nach Berechnungen der CDC verzeichneten die USA somit eine Case Fatality Rate (CFR) bzw. Letalität über alle Bevölkerungsgruppen und Regionen hinweg von 1,81 Prozent aller bisher positiv Getesteten („Cases“). Aus den Daten des täglichen Lageberichts des RKI (Stand: 11.03.2021) lässt sich analog ein durchschnittlicher Fall-Verstorbenen-Anteil von 2,87 Prozent errechnen, was sich wohl vor allem durch das deutlich höhere Medianalter der deutschen Bevölkerung – die ohnehin eine der ältesten weltweit ist – erklären lässt. Im Bundes- und im Bevölkerungsdurchschnitt ergab sich seit Beginn der Testungen bei 3,05 Prozent aller Tests je 100.000 Einwohner ein positives Ergebnis – wohlgemerkt bei ausgeprägten saisonalen und wöchentlichen Schwankungen sowie einer im Vergleich zu den USA und vielen EU-Staaten wie bereits erwähnt deutlich niedrigeren Testhäufigkeit. Das derzeitige Risiko, an einer Corona-Infektion zu versterben, liegt auf Basis dieser Daten damit statistisch bei ca. 0,16 Prozent in den USA und bei ca. 0,087 Prozent in Deutschland. Natürlich liegt die Letalität bei bestimmten Risikogruppen deutlich über diesem Durchschnittswert, so bei betagten Menschen über 80 Jahren (für die ohnehin fast jede Erkrankung ein hohes Sterberisiko darstellt). In den jüngeren Alterskohorten fällt das Sterberisiko degegenüber deutlich niedriger aus.

Das offizielle gesundheitspolitische Oberziel (nicht nur) der Bundesregierung war zunächst die Minimierung der Zahl tödlich verlaufender Infektionen. Inzwischen wurde es aber unter den Stichworten „Long COVID“ bzw. „Post-COVID-Syndrom“ dahingehend ergänzt, das auch bestimmte gesundheitliche Langfristfolgen bei Genesenen wie dauerhafte Veränderungen der Atmungsorgane oder Narkolepsie möglichst umfassend verhindert werden sollen. Angesichts eines Anteils von nur zwei bis drei Prozent schwerer Krankheitsverläufe bei den bisher Infizierten lässt sich ein Jahr nach der offiziell von der WHO ausgerufenen Corona-Pandemie über die tatsächliche Häufigkeit solcher Spätfolgen freilich nur grob spekulieren. Zudem dürfte der medizinische Fortschritt ohnehin für immer effektivere, auch medikamentöse Therapien sorgen. Deshalb sind die aktuellen Maßnahmen der Anti-Corona-Politik weder durch die aktuelle Sterblichkeit noch durch Berufung auf ein abstraktes und daher kaum operationalisierbares Vorsichtsprinzip („Precautionary Principle“) gedeckt.

Vernachlässigung der Auswirkungen der Massnahmen

Ohnehin darf sich eine objektive Gesamtschau aller „Corona-Opfer“ als politische oder medizinische Rechtfertigung der ergriffenen Maßnahmen weder auf die absolute Zahl der „an oder mit“ Corona Verstorbenen beschränken: Auch nicht über das Konstrukt einer mutmaßlich durch Corona bedingten statistischen Übersterblichkeit oder durch den Verweis auf mögliche gesundheitliche Langzeitschäden. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang vielmehr auch die Schicksale all der Menschen, deren medizinische oder psychologische Behandlung von der Politik als nachrangig gegenüber der Versorgung von Corona-Infizierten eingestuft wurde. Diese Triage, über die auch viele der selbst ernannten Qualitätsmedien bislang kaum berichteten, forderte ungezählte Opfer, zum Beispiel durch eine mögliche Zunahme der Fälle häuslicher Gewalt, durch verschobene, aber potentiell lebensrettende Operationen und Chemotherapien oder durch unentdeckt gebliebene Krankheitsbilder, falls sich die Betroffenen aus Furcht vor einer Ansteckung mit Covid-19 gegen einen Arztbesuch oder einen Krankenhausaufenthalt entschieden. Ebenfalls nicht übersehen werden dürfen in diesem Zusammenhang die schweren psychischen Erkrankungen, die sich bei vielen sensiblen Menschen aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus oder eine durch die Pandemiemaßnahmen der Politik verursachte oder befürchtete Existenzbedrohung einstellten. Das schließt auch die durch diese enormen psychischen Belastungen im Extremfall ausgelösten Selbstmordversuche und Suizide mit ein. Unerklärlicherweise lassen sich bei den politisch Verantwortlichen und in der meisten im Bundestag und den Landtagen vertretenen Parteien keinerlei Bestrebungen erkennen, diese nicht minder relevante indirekte Dimension der Corona-Pandemie mit ihren noch gar nicht absehbaren gesundheitlichen und sozialen Folgen auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Zu den tatsächlichen Risiken und Nebenwirkungen: Verkehrs- und Wirtschaftsinfarkt an den deutschen Grenzen

Der sichtbarste Effekt des neuen deutschen Grenzregimes war sicherlich die extreme Staubildung auf einer Länge von anfangs bis zu 25 Kilometern. Ursächlich ist die Einrichtung stationärer Kontrollstellen der Bundespolizei an den deutschen Grenzübergängen zu Tschechien und Tirol sowie die Öffnung von Testzentren für Lkw-Fahrer und Grenzpendler, damit sie den verschärften Testpflichten vor Ort nachkommen können. Damals berichteten sogar die Mainstream-Medien für kurze Zeit. Der deutschen Öffentlichkeit vorenthalten wurde demgegenüber die noch erheblich heiklere Situation auf der für Nord-Süd-Verkehre besonders wichtigen Brennerroute, die täglich in beide Richtungen von etwa 7.000 Lkw befahren wird. Diese Strecke wurde und wird von der italienischen Polizei auf Anweisung der dortigen Regierung für Transitverkehre via Tirol nach Deutschland teilweise bereits ab Verona gesperrt, was seither für Fahrer und Transportunternehmen zeitraubende und kostentreibende Umwege bedeutet und damit auch das reibungslose Funktionieren der Lieferketten – auch bei verderblichen Gütern wie Lebensmittel – stark gefährdet.

Noch prekärer entwickelte sich die Lage über die Weihnachtstage bis zum Jahresanfang 2021 an den Fährhäfen Großbritanniens sowie am Ärmelkanaltunnel durch das zeitliche Zusammenfallen des Brexit mit dem Erlass neuer französischer Einreisebeschränkungen zur Abwehr der britischen Virusvariante B.1.1.7. Diese sicherlich nicht nur epidemiologischen Erwägungen folgende, sondern auch von dem politischen Wunsch getragene Entscheidung, der britischen Regierung einen Denkzettel für den Austritt des Landes aus der EU zu verpassen, erfolgte ohne jede ohne Vorankündigung. Sie zwang somit Tausende gestrandeter Lkw-Fahrer, mehrere Tage in eilig eingerichteten Wartezonen im Süden Englands unter teilweise menschenunwürdigen Umständen, d.h. ohne ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und sanitären Anlagen, verbringen zu müssen. Wenig überraschend blieben Fehlereingeständnisse des politischen Establishments beiderseits des Ärmelkanals ebenso aus wie Rücktritte der Verantwortlichen.

Allerdings warfen die zuvor beschriebenen Ereignisse zumindest ein kurzes mediale Schlaglicht auf die oft ausgesprochen schwierigen Arbeitsbedingungen der (überwiegend männlichen und häufig osteuropäischen) Lkw-Fahrer. Ohne sie wäre die Aufrechterhaltung grenzüberschreitender Produktionsprozesse nicht zu realisieren. Auch eine zuverlässige Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und sonstigen Gütern des täglichen Bedarfs wäre ohne ihre Arbeitsleistung absolut undenkbar. Dennoch wurde diesen Menschen bislang, ganz anders als den von Politik und Medien massiv in den Fokus der Öffentlichkeit gerückten, überwiegend weiblichen Beschäftigten in Krankenhäusern, in der Pflege und im Lebensmitteleinzelhandel, trotz ihrer keinesfalls geringeren „Systemrelevanz“ die politische, mediale und öffentliche Anerkennung  als „Corona-Helden“ bis heute verweigert.

Vielfältige Schikanen

Die vielfältigen Schikanen, denen sich die im grenzüberschreitenden Verkehr beschäftigten Lkw-Fahrer bereits vor der Pandemie ausgesetzt sahen, nahmen seither nochmals erheblich zu, ohne dass öffentlich darüber berichtet wird. So mussten und müssen beispielsweise Lkw-Fahrer, die Sammelgut-Verteilerverkehre von Deutschland ins österreichische Vorarlberg durchführen, täglich einen negativen Corona-Test für die Erlaubnis zur Einreise nach Österreich nachweisen. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland werden diese Fahrer an den Rampen deutscher Firmen den Vorgaben der deutschen Anti-Corona-Politik entsprechend nicht selten als potentielle „Superspreader“ abgewiesen und teilweise von den Behörden sogar direkt in Quarantäne geschickt. So verschärft die Abschottungspolitik Deutschlands indirekt auch den ohnehin chronischen Fahrermangel bei den Speditionen, wodurch die verfügbaren Transportkapazitäten künstlich weiter verknappt werden.

Neben den unmittelbaren Folgen der Grenzschließungen für die Fahrer als schwächstes Glied transnationaler Lieferketten, wirkt sich das Durchregieren an den Grenzen ebenfalls direkt oder indirekt auf das Transport- und Logistikgewerbe und schließlich auf Industrie und Handel aus. So erzwingen die politisch gesetzten Hürden im operativen Transportgeschäft Lieferverspätungen durch kostenbelastender Umwegfahrten und Lieferausfälle, die von den Empfängern der Waren regelmäßig mit Konventionalstrafen geahndet werden. Mittlerweile vermelden bereits einige Logistikverbände wie etwa der BGL, dass auch Versorgungsengpässe der Bevölkerung wie bereits im letzten Frühjahr bei einigen Produkten unmittelbar bevorstehen können.

Des Weiteren gelangen Pendler mit Wohnsitz jenseits der Grenze nicht selten gar nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen, was – wenn die Tätigkeit keine Home Office-Lösung erlaubt – im günstigsten Fall Lohnausfälle nach sich zieht, aber im Worst Case auch den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten kann. Eng begrenzte Ausnahmen gelten zwar für die sehr überschaubare Gruppe der von der jeweiligen Landesregierung als „systemrelevant“ eingestuften Grenzpendler. Diesen ist zwar die Einreise erlaubt, wie jedoch bereits erwähnt unter deutlich erschwerten Bedingungen wie Testungen in kurzen zeitlichen Abständen und meist auf eigene Kosten.

Ein aktueller Bericht über eine grenzüberschreitende Geschäftsreise (übermittelt aus dem Bekanntenkreis):

  • Anlass: Persönliches Dienstgespräch zwischen einem Geschäftsleitungs-Mitglied eines süddeutschen Logistikunternehmens (wohnhaft in Vorarlberg, Österreich) mit einem Geschäftsleitungsmitglied eines Ost-Schweizerischen Logistikunternehmens an einem Freitagabend im März 2021 in der Schweiz.
  • Bereits das „Mitbringsel“ aus Deutschland im Form einer kleinen Aufmerksamkeit war rechtlich eigentlich illegal, da man aus Österreich nicht zum Einkaufen nach Deutschland fahren darf.
  • Der Geschäftsreisende nahm auf die abendliche Dienstreise seine Gattin mit, auch um die nächtliche Rückfahrt nicht alleine bestreiten zu müssen.
  • Beide Reisenden unterzogen sich dann pflichtgemäß nachmittags in Vorarlberg einem Corona-Test (negativ).
  • Beide registrierten sich außerdem pflichtgemäß auf einer österreichischen digitalen Plattform, mussten dort viele Seiten elektronisch ausfüllen sowie alle persönlichen Daten angeben (sowie zum Besuch und den Besuchten). Von den „zugelassenen Reisegründen“ passte zwar „Dienstreise“ für den Besucher selbst, nicht aber für seine Ehefrau, die ihn begleitete, aber nicht in seiner Firma beschäftigt ist. Private Treffen mit Freunden sind derzeit nicht als Grund vorgesehen. „Ausführungsbestimmungen“ zu den Paragraphen zu den zulässigen Reisegründe fanden sich auf der Plattform nicht.
  • Das Ehepaar gab schließlich den Besuch ihres in der Schweiz lebenden, erwachsenen Kindes als Grund an.
  • Während des abendlichen Besuchs erhielt das Ehepaar mehrfach von der Plattform automatisch generierte Emails als Aufforderung zu einer pünktlichen Rückkehr.
  • Beim Aufbruch zur Rückreise gegen 23.00 Uhr wurde ihnen bewusst, dass für den letzten Teil der Rückfahrt durch Vorarlberg dort ab 20.00 Uhr Ausgangssperre herrschte.
  • Fazit: Grenzüberschreitende Dienstreisen werden von der Politik faktisch unmöglich gemacht. Will man sie absolut rechtskonform durchführen, stößt man auf schier unüberwindbare Barrieren.

Je intensiver, kleinteiliger und länger die Politik unter dem Banner der Pandemiebekämpfung in den Grenzverkehr und damit in hochspezialisierte transnationale Produktionsprozesse und deren Lieferketten eingreift, desto höher sind naturgemäß die betriebs- und volkswirtschaftlichen Folgekosten dieser Maßnahmen – so wie bei jeder anderen protektionistisch wirkenden Politik auch. Unstrittig verteuert das derzeitige Grenzregime alle Produktionsprozesse in Deutschland, die in oft hoch spezialisierte grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten integriert sind. Das betrifft so wichtige deutsche Schlüsselindustrien wie die Automobilwirtschaft, den Maschinenbau und die chemische Industrie ebenso wie die Herstellung und den Vertrieb von Pharmaprodukten. Können beispielsweise als Konsequenz temporär ausbleibender oder verzögerter Vorleistungslieferungen Produktionskapazitäten nicht mehr ausgelastet werden, werden die betroffenen Unternehmen zunächst typischerweise Schichten ausfallen lassen und ggfs. Kurzarbeit ausrufen. Dauert dieser Zustand länger an, werden sich angesichts der äußerst schwierigen Wirtschaftslage – die ganz wesentlich auf die ergriffenen Anti-Corona-Maßnahmen, insbesondere die andauernden Lockdowns, zurückzuführen ist – Werksschließungen und sogar Insolvenzen oft nicht vermeiden lassen. Die bekannten makroökonomischen Multiplikator- und Akzeleratoreffekte führen dann tendenziell zu einem weiteren Rückgang von Wirtschaftsleistung, Beschäftigung und Steueraufkommen – denn Kurzarbeiter und Arbeitslose verfügen nicht nur über absolut weniger finanzielle Mittel für Konsumausgaben, sondern schränken ihren Konsum aus Vorsichtsgründen tendenziell noch weiter ein.

Obwohl transnationale Wertschöpfungsketten empirisch eine erstaunlich hohe Stabilität aufweisen, müssen zu den betriebswirtschaftlichen Zusatzkosten der aktuellen operativen Beschränkungen auch die möglichen Langfristeffekte von Grenzschließungen in Gestalt etwaiger künftiger Produktionsverlagerungen in andere (Welt-)Regionen hinzuaddiert werden. Diese könnten erfolgen, um die Abhängigkeit der Unternehmen von grenzüberschreitenden Transporten und Lieferketten zu reduzieren. Für die deutsche Volkswirtschaft als eine der am stärksten in die internationale Arbeitsteilung und Spezialisierung eingebundene und damit von offenen Grenzen existentiell abhängigen Ökonomien der EU, wäre das fatal.

Drehen an der Abwärtsspirale

Am 18.01.2021 veröffentlichte eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe deutscher Wissenschaftler ein Strategiepapier mit dem Titel „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“.[4] Es handelt sich um einen Masterplan zur Überwindung der Corona-Pandemie, der auf der sogenannten „No Covid“-Strategie basiert. Die Umsetzung wird im zweiten[5] und dritten[6] Teil des Papiers konkretisiert. Die in der medialen Öffentlichkeit bekanntesten Mitglieder der Gruppe sind der Präsident des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, der Volkswirt Clemens Fuest, der Soziologe Heinz Bude und die Virologin Melanie Brinkmann, eine enge Beraterin der Bundeskanzlerin. Was sollen die deutsche Politik (und wohl auch die EU) nach Ansicht dieser Expertengruppe also tun? Nach Erreichen einer sogenannten Risikoinzidenz von 0 wird eine Region als „Grüne Zone“ eingestuft. Diese Risikoinzidenz gilt als erreicht, sobald dort für die Dauer von 14 Tagen und bei Anwendung einer ebenfalls vorgeschlagenen neuen Teststrategie keine Corona-Infektion unbekannten Ursprungs mehr festgestellt werden kann. Liegt die Risikoinzidenz jedoch höher, muss sie als „Rote Zone“ eingestuft werden. Eine rigide „Track-Trace-Isolate“-Strategie soll danach verhindern, dass von außen neue Infektionsfälle in eine „Grüne Zone“ hereingetragen werden – was sich in der Praxis nur durch eine nahezu komplette Abriegelung der Zonen realisieren ließe. Reisen zwischen „Roten Zonen“ und „Grünen Zonen“ wären nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt, während Reisen zwischen „Grünen Zonen“ uneingeschränkt möglich wären. So sollen Anreize für die Bewohner der „Roten Zonen“ entstehen, durch entsprechende kollektive Anstrengungen rasch den Status einer „Grünen Zone“ zu erreichen.

Offenkundig steht die rigorose Abschottungspolitik der Inselstaaten Australien und Neuseeland Pate für diesen Vorschlag. Propagiert mit dem an Orwellschen Neusprech erinnernden Slogan „Mit Grünen Zonen zu dauerhaften Lockerungen“, beschwört der Ansatz für jeden noch freiheitlich denkenden Menschen die Dystopie eines totalitären Überwachungsstaates herauf. Eine weitere Gruppe von Wissenschaftlern aus mehreren EU-Staaten schlägt ein nahezu identisches Zonensystem auf EU-Ebene vor und verbreitet seine Ideen über so einflussreiche Kanäle wie die OECD[7] und das Bruegel Institute,[8] vorgeblich mit dem alleinigen Ziel, den wegen der politischen Anti-Corona-Maßnahmen darniederliegenden innereuropäischen Tourismus wiederaufleben zu lassen.

Vor wenigen Tagen, am 09.03.2021, beschloss Thilo Sarrazin seinen ebenfalls der deutschen Anti-Corona-Politik gewidmeten Kurzbetrag auf achgut.com mit dem folgenden Satz: „Aber klagen wir nicht, die Gesellschaft hat in dieser Pandemie jene Politiker, die sie sich durch ihre eigene Widersprüchlichkeit verdient hat.“[9] Es bleibt zu hoffen, dass sich die Gesellschaft bei den in diesem Jahr anstehenden Wahlen daran erinnert, was ein Jahr nach dem Ausrufen der Pandemie inzwischen für die Zukunft dieses Landes und seiner Bürger auf dem Spiel steht. Das neue deutsche Grenzregime ist nur die Spitze des Eisbergs. Das für einen ungestörten und freien Grenzverkehr neben dem federführenden BMI mit zuständige BMVI ist im Lichte der aktuellen Entwicklungen wohl auf Tauchgang gegangen – und lässt die Logistik- und Transportbranche ebenso wie weite Teile der Wirtschaft sehenden Auges „absaufen“.

Titelfoto: © Loginfo24 / Bildlegende: Fussgänger- und Fahrradgrenzübergang zwischen Riehen/Schweiz und Lörrach-Stetten/Deutschland. Abgeriegelt, wie in einem Konfliktfall.

 Autoren:

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland   https://www.uni-speyer.de/lehrstuehle/level-2/prof-dr-dr-hc-andreas-knorr/begruessung

 

Prof. Dr. Wolfgang Stölzle ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Supply Chain Management an der Universität St. Gallen (Schweiz) und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland
https://iscm.unisg.ch, https://logistics-advisory-experts.ch

 

Quellenverzeichnisse:

1 Quelle: https://www.corona-in-zahlen.de/landkreise/sk%20speyer/

2 Quelle:  Sarah A. Nadeau, Timothy G. Vaughan, Jérémie Scire, Jana S. Huisman, and Tanja Stadler: The origin and early spread of SARS-CoV-2 in Europe, in: Proceedings of the National Academy of Science of the United States of Americas, March 2, 2021, 118 (9) e2012008118, https://doi.org/10.1073/pnas.2012008118.

3 Quelle: Our World in Data, Daily new Covid-19 tests per 1,000 people (https://ourworldindata.org/coronavirus-testing

4 Quelle u.a. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/no-covid-strategie.pdf.

5 Quelle: https://www.ifo.de/publikationen/2021/monographie-autorenschaft/proaktive-zielsetzung-bekaempfung-sars-cov-2-handlungsoptionen.

6 Quelle: https://www.cassis.uni-bonn.de/de/ueber-cassis/prof.-maximilian-mayer/nocovid-plan/no-covid-teststrategien.

7 Quelle: https://www.oecd-forum.org/posts/travel-in-harmony-european-co-ordination-to-protect-green-zones.

8 Quelle: https://www.bruegel.org/2021/02/aiming-for-zero-covid-19-europe-needs-to-take-action/

9 Quelle: https://www.achgut.com/artikel/die_gesellschaft_hat_die_politiker_die_sie_verdient_hat

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